#JusticeForChristmasTrees

Appell eines Weihnachtsbaums

Um die Feiertage wird stets viel gefeiert, gegessen und gelacht. Kerzen brennen, Geschenke werden hastig eingepackt und kurz darauf freudig aufgerissen. Und inmitten des Trubels stehe ich: Festig geschmückt, mit Girlanden und nostalgischen Ornamenten aus einer vergessenen Kellerecke. Umzingelt von Geschenken bringe ich Kinderaugen zum leuchten, alle Aufmerksamkeit gilt mir. Doch nun ist Weihnachten vorbei und ein neues Jahr beginnt. Meine Äste werden schwach und meine Nadeln trocknen langsam aus. Die anfängliche Begeisterung, die mir galt, ist längst entnervter Fragerei nach geeigneten Entsorgungsmethoden gewichen. Unvorsichtig wird mir der Schmuck entrissen, man regt sich über die verlorenen Nadeln auf. Und so kommt es, dass ich kurz darauf per Auto in ein abgelegenes Waldstück transportiert werde und eine unsanfte Begegnung mit dem Erdboden mache. 

Unmittelbar bin ich mir bewusst, dass obwohl ich mich in meiner natürlichen Umgebung befinde, gehöre ich hier nicht mehr hin. Meine Wurzeln wurden mir auf gewaltsame Weise von den Zähnen einer Kettensäge genommen. Auf dem kühlen Waldboden offenbart sich mir eine unangenehme Wahrheit. Inmitten des Waldes bin ich der horizontale Aussenseiter, das Kuckuckskind, ein Opfer des Kommerzes. Wie konnte mir das passieren? Ich wurde gepriesen wegen meiner Schönheit, Dichte und Grösse – genau das war mein Verhängnis. Es ist schwer vorstellbar, dass in einer Welt und Zeit, so aufgescheucht wie die heutige, ein ökologischer Genozid dieser Ausmasse ohne Hinterfragen und mit völliger Selbstverständlichkeit jährlich stattfinden kann. Hat Sartre nicht gesagt „Eigensinn ist die Energie der Dummen“? Diese Beobachtung wird zur Weihnachtszeit geradezu schmerzlich real. Menschenmassen folgen blind dem Strom des Kapitalismus, verlieren die Bedeutung von Weihnachten aus den Augen und reduzieren sie auf ein Couvert mit Scheinchen. Alles bekommt einen Preis an Weihnachten, auch wir Bäume. Und trotz hohem Preis, scheint unser Wert nahezu inexistent. Sobald der letzte Verwandte nach dem Familienessen über die Türschwelle verschwindet, werden wir gehandhabt wie alte Essensreste: Loswerden, so schnell wie möglich. 

Je länger ich hier auf dem Waldboden liege, desto bewusster wird mir die Ungerechtigkeit, welche uns Tannenbäumen Jahr für Jahr widerfährt. Man könnte meinen, nebst #SaveTheTurtles, #PrayForAmazon und #MeToo gäbe es Platz für #JusticeForChristmasTrees, doch die Gräueltaten gegenüber wehrlosen Photosynthesisten nehmen kein Ende. Eine verzierte Baum-Leiche im Wohnzimmer gehört eben für viele zum Fest dazu. Kant vermittelt präzis; „Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu werden, sondern um unsere Pflicht zu erfüllen“. Die Pflicht, die Erde für die Nachwelt zu erhalten, ist so essentiell, dass sie als Priorität aller Generationen verstanden werden muss. Das Retten der Bäume hat gegenüber einer kurzweiligen Glückseligkeit Vorrang. Natürlich bin ich als Baum nicht unvoreingenommen, wenn es um die Tötung meiner Geschwister geht. Nichtsdestotrotz darf das Thema Weihnachtsbaumabholzung in Gegenwart eines neuerkämpften Umweltbewusstseins nicht länger als Ausnahme gewertet werden. 

Es knackt im Gebüsch, ein weiterer Tannenbaum findet sein jähes Ende.

Meine letzten Momente verbringe ich damit, mir ein friedliches Weihnachtsfest vorzustellen. Ein Fest ohne tote Bäume, ohne zerstörerische Gier. Ich würde gerne sagen, ich weiss, dass es dazu kommen wird. Aber in den Worten von Sokrates, „ich weiss, dass ich nichts weiss“. Zuletzt bleibt die Hoffnung, ich stelle mir vor, wie die Menschen umdenken und das Leben der Bäume feiern, anstatt sie der Natur zu entreissen. Es ist ein Schimmer am Horizont, aber ich glaube daran.

Sapere aude und ein frohes neues Jahr.

Laura May Quenet